Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.

Thomas Mann

(1875–1955)

Schriftsteller

Thüringer Bündnisse, Initiativen und Netzwerke gegen Rechts

Unser Offener Brief an Thüringens Innenminister Georg Maier

Sehr geehrter Innenminister Maier, seit mehr als zwei Jahren ist die Corona-Pandemie das bestimmende Thema auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Seit Anbeginn der Pandemie nutzen extrem rechte Akteur*innen sowie Verschwörungsgläubige diese als Mittel zum Zweck, um gegen die Demokratie zu hetzen, während sie auf illegalen Zusammenkünften mit Schildern und Trillerpfeifen „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ skandier(t)en.

Für uns als Zivilgesellschaft war und ist unser Hauptziel, niemanden zu gefährden – nicht im Privaten und vor allem nicht bei Kundgebungen! Deshalb waren wir anfangs mit unseren Gegenprotesten zurückhaltend. Erst als wir sahen, dass die zuständigen Behörden, namentlich Polizei und Versammlungsbehörden, diese Demonstrationen von Pandemieleugner*innen und Maßnahmengegner*innen mit ihren immer aggressiver werdenden Teilnehmer*innen nicht mehr kontrollieren konnten oder wollten, organisierten wir thüringenweit zahlreiche Gegenproteste. Wir wollten diesen Demonstrierenden nicht die Straßen und Plätze überlassen. Es war und ist uns wichtig, dass es Solidarität statt Egoismus zur Bewältigung einer Pandemie braucht und die Szene der Pandemieleugner*innen und Maßnahmengegner*innen nicht die Mehrheit der Gesellschaft darstellt.

Ihre Anfang des Jahres getätigten Aussagen, dass es bei den „Corona-Protesten“ der Szene „nicht in Ordnung“ sei, diese „alleine der Polizei zu überlassen“ und dass wir als Zivilgesellschaft „teilweise noch zu leise“ seien, halten wir für sehr problematisch. Uns scheint es so, als hätten Sie sich in Ihren Äußerungen keine Gedanken über die Frage gemacht, warum die Zivilgesellschaft bisher zurückhaltend war. und uns dies auch nicht gefragt! Darüber hilft auch nicht Ihre Aussage hinweg, dass Reaktionen der Zivilgesellschaft „im digitalen Raum, also pandemiekonform stattfinden“ [1] könnten.

Deshalb hier unsere Antwort: Das Ziel der Zivilgesellschaft kann und wird es nicht sein, der Polizei in irgendeiner Weise unterstützend zur Seite zu stehen! Die Organisation der Proteste gegen diese teils aggressive und gewalttätige Szene stellte uns als Zivilgesellschaft vor eine enorme Herausforderung. Nicht nur, weil wir natürlich alle Engagierten schützen wollen, sondern auch, weil die Polizei in Thüringen uns teils den Schutz unserer Gegenproteste nicht gewährleisten konnte oder wollte. Mehrfach kam es auch zu Verhinderung unserer Gegenproteste durch die Polizei zugunsten der Pandemieleugner*innen und Maßnahmengegner*innen. Um Ihnen dies zu verdeutlichen, haben wir mit zahlreichen Bündnissen aus Thüringen über deren Erfahrungen in Bezug auf „Corona-Proteste“, Gegenproteste und das Agieren der Polizei gesprochen.

Einige Eindrücke von engagierten Menschen aus verschiedenen Regionen in Thüringen:

„Bei einer Aktion am 7. Februar 2022 wurde uns von der Polizei gesagt, sie würden im Ernstfall nicht eingreifen und nicht für unsere Sicherheit garantieren können, wenn die Situation eskaliert. Daraufhin haben wir uns zurückgezogen, um deeskalierend zu wirken. Die Polizeibeamt*innen haben lediglich dagestanden, auch als Querdenker*innen gegen die Auflagen verstoßen und provoziert haben.“ (Engagierte aus Meiningen)

„In Weimar laufen nach wie vor jede Woche ca. 80–100 Menschen bei den pandemieverharmlosenden Protesten. Die Polizei macht gar nichts, begleitet inzwischen noch nicht mal mehr den Demozug der Pandemie-Leugner*innen, obwohl auch in Weimar inzwischen Schilder, Trommeln und Trillerpfeifen mitgeführt werden, der Aufzug also sehr deutlich Versammlungscharakter hat, allerdings nach wie vor nicht angemeldet ist. Gegendemos werden, obwohl angemeldet, massiv von der Polizei behindert. Im Nachgang der Gegendemo am 14. Februar 2022 wurden viele Teilnehmende unserer Versammlung nach Ende der Demo von Beamt*innen der ESU Jena (LP 4) auf dem Heimweg gekesselt und Ordnungswidrigkeitenanzeigen aufgenommen. Eine Person musste, nachdem sie von einem Polizisten gewaltsam gestoppt wurde, ins Krankenhaus.“ (Engagierte aus Weimar)

„In Jena hatten wir im Januar die Polizei mit Hundestaffel, die nicht etwa die angemeldete Kundgebung vor der JG Stadtmitte schützte, sondern mit Gewalt den Schwurblern den Weg durch die angemeldete Kundgebung bahnte. Am 14. Februar 2022 wurde die mit Anmeldung und Koop-Gespräch vorbereitete antifaschistische Demonstration für Solidarität in der Corona-Pandemie erst einmal ‚vergessen‘. Unterwegs wurden wir dann, ohne irgendwelche Begründungen zu nennen, gestoppt. Es stellte sich dann heraus, dass ein Zug Spaziergänger*innen ‚sicher‘ an uns vorbei geleitet werden musste. Bis auf einen konsequenteren Einsatz der Bundespolizei gegen die Spaziergänger wurden diese von der Thüringer Polizei allenfalls begleitet. Die vorher jeweils verkündete ‚Auflösung‘ ihrer unangemeldeten Zusammenkünfte schien eher das mit der Polizei verabredete Signal zum Beginn des illegalen Aufzugs zu sein.“ (Engagierte aus Jena)

Dies sind nur einige Beispiele von Geschehnissen, die wir so aber aus ganz Thüringen kennen. Wenn nach Ihrem Aufruf zu mehr zivilgesellschaftlichen Engagement, Versammlungen solidarischer und antifaschistischer Menschen nicht geschützt werden, sondern durch die Polizei gestoppt und/oder Repressalien ausgesetzt werden, damit Demonstrationen von Demokratiefeinden durchgesetzt werden können, dann ist ihre Forderung nach mehr Gegenprotest mindestens heuchlerisch! Uns stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, warum die Polizei so reagiert. Warum wurden/werden antifaschistische, linke Demonstrationen durch Ihre Kolleg*innnen nicht geschützt, gestoppt oder Repressalien ausgesetzt, während Demonstrationen, die zum Teil stark von extrem rechten Akteur*innen und Verschwörungsgläubigen untersetzt oder gar organisiert sind, gewährt werden und/oder diesen Demokratiefeinden der Weg freigemacht wird?

Die Zivilgesellschaft ist (auch) deshalb „zu leise“, weil wir in der Vergangenheit bei unseren organisierten Protesten schlichtweg Repressalien oder um unsere Sicherheit  fürchten mussten, die von der Thüringer Polizei an vielen Stellen nicht mehr gewährleistet wurde – von der Polizei, deren oberster Dienstherr Sie sind! Bevor Sie also das nächste Mal die Aktivität der Thüringer Zivilgesellschaft einfordern, stellen Sie sich oder vielleicht besser uns doch die Frage, warum wir manchmal „zu leise“ sind.