Das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann,
ist die Gleichgültigkeit gegenüber den politischen Verhältnissen.

Stéphane Hessel

(1917–2013)

Widerstandskämpfer, Überlebender des KZ Buchenwald, Mitverfasser der UN-Charta der Menschenrechte, Publizist

Thüringer Bündnisse, Initiativen und Netzwerke gegen Rechts

Offener Brief an die weiterführenden Schulen Thüringens

Liebe Schulleiterin, lieber Schulleiter, bitte leiten Sie diesen Brief an die Lehrerinnen und Lehrer, die Schulsozialarbeiter_innen, Erzieher_innen und die Schüler- und Elternvertreter_innen weiter.

Liebe Lehrer_innen, Erzieher_innen, Schulsozialarbeiter_innen, Mitglieder der Schüler- und Elternvertretungen, wir wenden uns an Sie und Euch als Vernetzung Thüringer Bündnisse, Initiativen und Netzwerke gegen Rechts. Etwa seit 2008 arbeiten wir an einer thüringenweiten gegenseitigen Unterstützung in der Auseinandersetzung mit Naziaufmärschen, Rechtsrockkonzerten und Naziübergriffen sowie allen anderen Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Wir haben die Erarbeitung des Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit kritisch begleitet und unterstützen seine Umsetzung und Weiterentwicklung durch die Mitarbeit im Programmbeirat und kritisch-konstruktive Beiträge zu den jährlichen Regional- und Landeskonfrenzen des Programms.

Seit fast zwei Jahren vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Informationen und Hintergründe zum Versagen staatlicher Organe bei der Verhinderung und Verfolgung der rassistischen Morde und Bombenanschläge des selbsternannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ bekannt werden. Die Frage, wie junge Menschen in unserer Mitte aufwachsen und zu rassistischen Mördern werden konnten, wird dagegen viel zu selten gestellt.

Wir sehen in rassistischen Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft und fehlenden Demokratieerfahrungen wichtige Ursachen für das Herausbilden und Verfestigen nazistischer und menschenfeindlicher Einstellungen. Wohl wissend, dass dies eine Herausforderung an die gesamte Gesellschaft ist, sehen wir hier die besonderen Aufgaben für die Schulen und die Jugendarbeit(1).

Wir möchten Sie und Euch ermutigen, sich diesen Herausforderungen in Ihrer und Eurer Schule aktiv zu stellen. Antirassistische Bildung, das Schaffen wirklicher Demokratie- und Partizipationserfahrungen und eine konsequente Aufklärung darüber, wohin rassistisches Denken und Handeln führt, können wichtige Schritte sein für mehr Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit.

Darum laden wir Sie ein, sich an den Projekten des Thüringer Landesprogramms
für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit(2) zu beteiligen, sich mit Ihrer Schule in das bundesweite Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“(3) einzureihen und die vielfältigen Unterstützungsangebote des Netzwerkes für Demokratie und Courage(4) zu nutzen. Des Weiteren finden Sie auf unserer Internetseite, der Seite der Kontakt- und Koordinierungsstelle des Jenaer Stadtprogramms gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus und Intoleranz(5) sowie der Seite des Thüringer Landesprogramms vielfältige Infomationen zu Initiativen, Ausstellungen, Projekten und Weiterbildungen zur Demokratiebildung. Insbesondere möchten wir Ihnen das kostenlose Weiterbildungsangebot des Thüringer Landesprogramms(6) empfehlen.

Neben rassistischen Vorurteilen sehen wir einen wesentlichen Grund für das Nichterkennen und Verharmlosen rechtsterroristischer Gewalt durch die Sicherheitsorgane und insbesondere durch den Thüringer Verfassungsschutz in deren Denken und Handeln, das stark von der sogenannten Extremismustheorie geprägt ist. Dabei werden Rechtsextremismus, ein konstruierter Linksextremismus und Islamismus als extremistische Randerscheinungen gleichgesetzt, während die sogenannte Mitte per se als demokratisch erklärt wird. Der Blick auf rassistische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft und die gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit werden dabei völlig verstellt.(7) Wenige Wochen vor dem Auffliegen des NSU erklärte der damalige Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes diese Extremismusdoktrin weiterhin zur Arbeitsgrundlage seiner Behörde.

Der Verfassungsschutzbericht für 2012 zeigt, dass sich daran wenig geändert hat. Auf dieser Grundlage hatte der Thüringer Verfassungsschutz auch sein V-Leute-System aufgebaut, mit dem er zwar keine wesentlichen Informationen zur Verhinderung nazistischer und rechtsterroristischer Gewalttaten gewinnen konnte, jedoch mit den an die V(ertrauens)-Leute im nazistischen Umfeld gezahlten Gelder gerade zum Aufbau und Erstarken dieser Strukturen beigetragen hat sowie in einzelnen Fällen sogar polizeiliches Handeln gegen Nazis verhinderte.
Wir halten den Verfassungsschutz aufgrund seines Charakters als Inlandsgeheimdienst und seiner Arbeitsweise als völlig ungeeignet und inkompetent, einen Beitrag zur Demokratiebildung zu leisten, erst recht so lange er seine eigene Arbeitsweise und theoretischen Grundlagen nicht selbstkritisch aufarbeitet. Gleiches gilt auch für die Ausstellung unter dem Titel „Feinde der Demokratie – politischer Extremismus in Thüringen“, die vom Thüringer Verfassungsschutz für die Arbeit an Schulen angeboten wird.
Die von uns aufgeführten Projekte, Ausstellungen und Weiterbildungsangebote stellen dazu eine wirkliche Alternative echter Demokratiebildung dar.
Gerne stehen wir Ihnen und Euch für weitere Fragen zur Verfügung.

Lassen Sie uns gemeinsam für eine von Solidarität und gegenseitigem Respekt geprägte, demokratische Gesellschaft eintreten. Für Ihre verantwortungsvolle Arbeit im neuen Schuljahr wünschen wir Ihnen viel Erfolg.

Madeleine Henfling, Dr. Bernd Stoppe, Harald Zeil
Sprecher_innen der Vernetzung Thüringer Bündnisse, Initiativen und
Netzwerke gegen Rechts