Die Vernetzung der Thüringer Bündnisse, Initiativen und Netzwerke gegen Rechts unterstützt den diesjährigen Antifaschistischen und antirassistischen Ratschlag und lädt in diesem Rahmen zur Teilnahme auf. Wir veröffentlichen an dieser Stelle den Aufruf im Wortlaut:
Aufruf zum 27. antifaschistischen & antirassistischen Ratschlag in Saalfeld
Wir sind viele
Jeden Tag sind Menschen in vielen Orten und Städten Thüringens aktiv: Sie geben Geflüchteten Sprachunterricht oder übernehmen Pat*innenschaften. Sie stellen oder setzen sich Nazis und Rechtspopulist*innen in den Weg. Sie engagieren sich für die Rechte aller Kolleg*innen im Betrieb. Sie organisieren alternative Kultur- und Bildungsangebote oder bemühen sich um eine gegenwartsbezogene Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialist*innen und die Gesellschaft, die diese Verbrechen hervorbrachte. Ihr Engagement ist vielfältig, jedoch oft zu wenig sichtbar.
Zustände, die jede*r kennt
Jeden Tag sind Menschen in vielen Orten und Städten Thüringens aktiv: Sie beleidigen oder attackieren Geflüchtete und andere Menschen, die nicht in ihr enges rechtes Weltbild passen. Sie marschieren durch die Straßen und grölen menschenverachtende Parolen. Sie spielen Kolleg*innen unterschiedlicher Herkunft gegeneinander aus. Sie organisieren Neonazi-Konzerte und -Festivals, verharmlosen oder relativieren die beispiellosen Verbrechen der Nationalsozialist*innen und verherrlichen die Gesellschaft, die diese Verbrechen hervorbrachte. Rechte Aktivitäten sind alltäglich und vielfältig, manchmal laut und sichtbar aber viel häufiger wirken sie nebensächlich und zu wenige wollen sie so wahrnehmen.
So etwas wie ein guter Rat
Seit Beginn der 1990er Jahren findet jeweils am ersten Novemberwochenende der antirassistische und antifaschistische Ratschlag an wechselnden Orten in Thüringen statt. Der Ratschlag möchte hinsehen: Er benennt aktuelle Formen des Menschenhasses und analysiert gesellschaftliche Zustände. Er ermutigt antirassistisch und antifaschistisch Aktive, sich auszutauschen und zu vernetzen. Er möchte gesellschaftliche Zusammenhänge herstellen und Positionen sowie Gegenstrategien diskutieren. Dazu laden wir alle Interessierten herzlich ein.
Lokale Kontinuitäten
„Gewalt nimmt rapide zu im Kreis Saalfeld-Rudolstadt“, unter dieser Überschrift vermeldete die OTZ im März 2017, dass die Opferberatung ezra einen Schwerpunkt ihrer Arbeit in Saalfeld sieht. Die jüngere Geschichte rechter Aktivitäten und Gewalt im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt reicht dabei bis in die 1990er Jahre zurück. Auf ihrem Weg in den Rechtsterrorismus machten auch das NSU-Kerntrio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt oft und gerne hier Station. Sie nahmen an Treffen der „Anti-Antifa Ostthüringen“ im Saalfelder Stadtteil Gorndorf teil oder beteiligten sich an Demonstrationen des „Thüringer Heimatschutzes“. Der aus Rudolstadt stammende Verfassungsschutz-Informant Tino Brandt baute in Thüringen Nazi-Strukturen mit überregionaler Bedeutung auf, misshandelte Kinder und Jugendliche und förderte die Prostitution und sexuelle Handlungen an Minderjährigen über mehrere Jahre. Finanziert wurden Brandts Aktivitäten und der Aufbau der Szene mit rund 200.000,– DM vom Verfassungsschutz. Von einem „Naziproblem“ wollte man in den 90er Jahren in und um Saalfeld jedoch nichts wissen. Eine antifaschistische Demonstration unter dem Motto „Den rechten Konsens brechen“, die auf diese Zustände aufmerksam machen wollte, wurde 1997 verboten. Die Organisator*innen wurden in der Öffentlichkeit als „Nestbeschmutzer“ (sic!) diffamiert.
Auch heute sind Nazis in Saalfeld und Umgebung sehr aktiv. Am 1. Mai 2015 konnten rund 800 Nazis bei einer Demonstration der Kleinstpartei „Der III.Weg“ durch Saalfeld marschieren und am Rande mehrere Punks schwer verletzen. Seit dieser Demo ist die lokale Naziszene sichtbarer und aggressiver, und die „Anti-Antifa Ostthüringen“ wurde Anfang 2016 neu gegründet. Ab da verübten Neonazis mehr Straftaten und versuchten politische Gegner*in-nen, meistens minderjährige Jugendliche mit Gewalt einzuschüchtern. Der ebenfalls im NSU-Prozess angeklagte Ralf Wohlleben erhält von hier kameradschaftliche Unterstützung und die geschätzten rund 150.000,– Euro, die bei einem Rechtsrockkonzert am 15. Oktober 2016 in der Schweizer Region Toggenburg mit Eintrittsgeldern umgesetzt wurde, gingen auf das Konto eines Saalfelder Nazis. Mit Steffen Richter wohnt zudem einer der umtriebigsten Organisator*innen von militanten Rechtsrockkonzerten in Saalfeld, der auch vor handfester Bedrohung und Einschüchterung Andersdenkender nicht zurückschreckt.
Thüringen
Thüringen spielt für die extreme Rechte seit Jahren eine überregional bedeutsame Rolle. Nicht nur die in der Szene immer stärker an Bedeutung verlierende NPD organisierte hier ihre Bundesparteitage, sondern auch die in diehinterlassenen Strukturlücken vorstoßende nationalsozialistische Kleinstpartei „Der III. Weg“ veranstaltet in Kirchheim, unweit von Erfurt, ihre Parteitage. Neben neonazistischen Parteienstrukturen organisieren Gruppen wie Thügida fast wöchentlich Demonstrationen, und es entsteht an vielen Orten ein Klima der Angst. Für die rechte Subkultur spielt Thüringen eine herausragende Rolle. So ist der Freistaat eine Hochburg für Musikkonzerte und große Festivals mitteilweise mehreren Tausend Teilnehmenden. Von altgedienten Neonazis organisiert und von Nazirocker*innen und Security gesichert, stellen sie nicht nur eine lukrative Einnahmequelle für die Szene dar, sondern garantieren auch den Erlebnischarakter für Nazis, mit Strahlkraft bis ins europäische Ausland. Überall in Deutschland scheint der Repressionsdruck auf die Rechtsrock-Szene höher zu sein als in Thüringen. Auch die sich immer weiter nach rechts orientierende AfD hat in Thüringen eine ihrer Hochburgen, dabei hat der Landesverband und sein Vorsitzender wenig Berührungsängste mit der extrem rechten Szene.
Globale Veränderungen
Zeichen einer politischen Entwicklung nach Rechts finden sich in vielen Teilen der Welt: In Ungarn und Polen werden zunehmend Menschenrechte abgeschafft sowie Minderheiten diffamiert und ausgegrenzt. In Frankreich gelangte eine Faschistin in die Stichwahl um das Präsidialamt. In der Türkei sitzen Zehntausende Menschen in Haft, wird ein Krieg gegen die kurdische Bevölkerung geführt und ein autokratisches System installiert. In den USA gewann ein sexistischer und rassistischer Kandidat die Präsidentschaftswahl. Zugleich sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg, islamistischem Terror, Hunger, Umweltzerstörung und Elend wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Staaten Europas und die USA reagieren darauf mit einer Verschärfung der Asyl-Gesetze und einer rigorosen Abschottung, die jedes Jahr Tausenden das Leben kostet.
Im Wunsch vieler Menschen nach volksgemeinschaftlicher Wärme und nationalistischer Abgrenzung sehen wir eine Reaktion auf tiefgreifende ökonomische, politische und ökologische Veränderungen und Umbrüche, durch die sich immer mehr Menschen u?berflu?ssig und machtlos fu?hlen. Deshalb möchte der antirassistische und antifaschistische Ratschlag auch die gesellschaftlichen Bedingungen dieser globalen Veränderungen in den Blick nehmen.
Gemeinsam mit allen Interessierten wollen wir für eine offene und solidarische Gesellschaft streiten, in der alle Menschen ohne Angst verschieden sein können.
In diesem Sinne: Kommt am 3. und 4. November 2017 zum 27. Antifaschistischen und antirassistischen Ratschlag nach Saalfeld!
(Quelle: www.ratschlag-thueringen.de)