Demokratie kann man keiner Gesellschaft aufzwingen, sie ist auch kein Geschenk, das man ein für allemal in Besitz nehmen kann. Sie muss täglich erkämpft und verteidigt werden.

Heinz Galinski

(1912–1992)

Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland 1988-1992

Thüringer Bündnisse, Initiativen und Netzwerke gegen Rechts

Dokumentiert: „November 2016 – Eine Erklärung“

Wir dokumentieren an dieser stelle eine Erklärung Jenaer Bürger_innen, die darin Bezug nehmen zum für den 9. November geplanten Thügida-Aufmarsch und dem fragwürdigen Agieren der Jenaer Stadtverwaltung. Im Wortlaut:

November 2016 – Eine Erklärung

Fu?r den 9. November, den Jahrestag der Reichspogromnacht, hat „Thügida“ erneut eine Demonstration in Jena angekündigt. „Thügida“ hat bereits am Jahrestag des Hitler-Geburtstages und am Jahrestag des Todes von Rudolf Hess demonstriert. Auch am 9. November ist ein Fackelmarsch erlaubt – wohl mehr als eine nur zufällige Parallele zu den NS-Fackelmärschen.

Eine von der Stadt Jena erlassene Allgemeinverfügung regelt „den Gegenverkehr“ – also die Proteste der Zivilgesellschaft gegen diesen erneuten Naziaufmarsch. Während die gleiche Stadtverwaltung in den neunziger Jahren wiederholt Demonstrationsanmeldungen von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt, Ralf Wohlleben und anderen rechtsextremen Kadern abgewiesen hat, tut sie 2016 nichts dergleichen, beschränkt und kriminalisiert stattdessen die Gegenproteste. Zum Beispiel: „Das Mitführen von Wasserbombenpumpen, Wasserbällen, aufblasbaren Planschbecken und Eiswürfeln wird untersagt. Es ist untersagt, Luftballons, Kondome, OP-Handschuhe und ähnliche dehnbare Gegenstände, mit Wasser oder anderen Flüssigkeiten zu befüllen oder befüllt mit sich zu führen.“ Mit massiven Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit, ergänzt um kleinliche und absurde Bestimmungen, soll die Zivilgesellschaft an deutlichen und kreativen Protesten gegen die Naziaufmärsche be- oder gar gehindert werden. Geregelt wird auch das Fahr- und Lautsprecherverhalten von Autos, die zur Durchführung von Gegenprotesten benötigt werden: „Beschallungsmittel, insbesondere Lautsprecher und Megaphone, dürfen nicht auf die Kopfhöhe von Versammlungsteilnehmern und Polizeibeamten ausgerichtet werden … Es ist untersagt, Personen auf dem Dach von Fahrzeugen zu transportieren … Es darf maximal mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden…“

Warum das Ganze? „Ausgehend von diesen rechtlichen Maßgaben besteht die begründete Prognose, dass ohne den Erlass der Allgemeinverfügung die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet wären.“ Und: „Am 20. Juli 2016 versuchten Gegendemonstranten bei einer Veranstaltung der ThüGIDA diese mittels Trillerpfeifen zu verhindern.“ Oder: „Bei einer weiteren Veranstaltung der ThüGIDA am 17. August 2016 kam es zu spontanen Menschenansammlungen im Bereich des Saalbahnhofs und der Theo-Neubauer-Straße. Diese hatten zur Folge, dass die Teilnehmer der ThüGIDA-Veranstaltungen nur mit erheblicher Verspätung zum Versammlungsort gelangen konnten.“ Weiter die Befürchtung: „Kommt es aufgrund einer unzureichenden räumlichen Trennung zum befürchteten Zusammentreffen der verfeindeten Lager, muss mit Verletzungen schwersten Ausmaßes gerechnet werden.“ Zum Alkoholverbot heißt es in der Allgemeinverfügung: „Das Alkoholverbot soll einer Enthemmung und einer unkontrollierten Verhaltensweise der Versammlungsteilnehmer entgegen wirken.“

Im Ergebnis steht: „ThüGIDA“ meldet für den Jahrestag der Judenpogrome eine eindeutig rechtsextreme Demonstration an, diese wird dem Grunde nach genehmigt. Die von der Zivilgesellschaft erwarteten Gegenproteste werden in einer Art und Weise be- und eingegrenzt, die uns erschrecken lässt. Proteste in Hör- und Sichtweite sind zwar rechtmäßig, aber offenbar in Jena nicht mehr gewünscht, sie werden nicht zugelassen. Die Zivilgesellschaft wird mit der Allgemeinverfügung für verdächtig und auch gleich für schuldig erklärt – „enthemmt“ und „unkontrolliert“.

Fünf Jahre ist es her, dass wir uns gerade in Jena öffentlich die Bekämpfung jedweden Rechtsextremismus versprochen hatten – in der Stadt, in der Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt politisch sozialisiert wurden, in der sie sich immer wieder dem Zugriff der Polizei und der Justiz hatten entziehen können.

Nun können ihre politischen Nachfahren in Jena demonstrieren. Und die Stadt sorgt dafür, dass diese Demonstration(-en) in Ruhe und Ordnung, vor allem: ungestört von Gegenprotesten verlaufen können. Hat die Zivilgesellschaft am 17. August Möglichkeiten gefunden, trotz aller Behinderungen phantasievoll Protest zu zeigen, wird eben in der nächsten Allgemeinverfügung nachgelegt, um genau das auszuschließen.

Das Agieren der Stadt Jena ist unerträglich, unbegreiflich, unverantwortlich. In jahrelanger gemeinsamer Arbeit ist es gelungen, dass sich Tausende empören, wenn die politischen Nachfahren der NSDAP und des NSU in unserer Stadt auftreten. Dieses demokratische Aufbegehren wird nun Schritt um Schritt verunmöglicht. In Sonntagsreden feiern Repräsentanten der Stadt das zivilgesellschaftliche Handeln gegen die neuen Nazis. Der OB ist gar für sein Engagement gegen Rechtsextremismus ausgezeichnet worden. Doch nun werden jene, die das ermöglicht haben, eingegittert und kriminalisiert.

Wir fordern die Verwaltung der Stadt Jena auf, ihre Politik zu ändern und zum konsequenten Engagement gegen alte und neue Nazis zurückzukehren. Wir wollen und wir brauchen keine Nazis in unserer Stadt. Wir treten dagegen auf, wann immer und wo immer es nötig ist. Dabei wollen wir Stadtpolitik und Stadtverwaltung an unserer Seite haben – und nicht gegen uns. Wir sind solidarisch und werden solidarisch mit all denen sein, deren antifaschistisches Engagement kriminalisiert und verfolgt wird. Wir sind unbedingt solidarisch mit Katharina und Lothar König, die gerade wieder öffentliche Morddrohungen erhalten haben. Wir ersparen uns an dieser Stelle die Zeilen des „Liedes“ der Rechtsrock-Band „Erschießungskommando“ – empfehlen aber sehr, die unverhohlenen Drohungen und Bezüge zum NSU zur Kenntnis zu nehmen und sie nicht zu verharmlosen.

Fünf Jahre erst ist es her, dass die Mordserie des sogenannten „NSU“ öffentlich bekannt wurde. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe haben sich in Jena politisch orientiert und sozialisiert. Gegen Antisemitismus, Neonazismus und Rassismus entschieden aufzutreten und Menschen zu schützen und zu unterstützen, die sich dagegen aussprechen und engagieren, das ist die Aufgabe einer demokratischen Stadtgesellschaft, nicht aber der Schutz immer neuer Nazidemos durch unsere Straßen.

Jena, im November 2016

Erstunterzeichner_innen:
• Dr. Renate Adam, FSU Jena
• Prof. Dr. Wolfgang Behlert, EAH Jena
• Prof. Dr. Klaus Dörre, FSU Jena
• Michael Ebenau, IG Metall
• Dr. Georg Elsner, Orisa GmbH Jena
• Konrad Erben
• Mario Förster, Mitglied im Beraterkreis des Runden Tisches für Demokratie, Jena
• Prof. Dr. Wolfgang Frindte, FSU Jena
• Gisela Horn, Arbeitskreis „Sprechende Vergangenheit“ im Jenaer Aktionsnetzwerk gegen Rechts
• Sebastian Neuß, Sprecher der Runden Tisches für Demokratie, Jena
• Christian Patho, DGB Jena
• Peter Scharffenberg, Mitglied im Beraterkreis des Runden Tisches für Demokratie, Jena
• Prof. Dr. Manuel Vogel, FSU Jena
• Harald Zeil, Mitglied im Beraterkreis des Runden Tisches für Demokratie, Jena